Wahrscheinlich hat Hegel die Aufzeichnungen Leonardo da Vincis, in denen er die Künste nach dem sogenannten paragone vergleicht und beurteilt, nie gelesen. Denoch beschreibt Hegel die Musik ähnlich, wenn auch mit weniger pejorativen Konnotationen: »Indem nämlich die Töne nicht wie Bauwerke, Statuen, Gemälde für sich einen dauernden objektiven Bestand haben, sondern mit ihrem flüchtigen Vorüberrauschen schon wieder verschwinden, so bedarf das musikalische Kunstwerk einerseits schon dieser bloß momentanen Existenz wegeneiner stets wiederholten Reproduktion.« Wie Leonardo, für den die Musik die Kunst ist, die bei der Geburt stirbt, betont Hegel, dass Musik im Wesentlichen das ständige und unaufhörliche Verschwinden des musikalischen Materials ist. Musik ist prinzipiell verschwindende Kunst, jedes Musikstück ist ein Abgesang, ein Ton ist nur dann ein Ton, wenn er die Fähigkeit besitzt, nicht als bloßer Klang zu verweilen, sondern zu verschwinden, dieses Verschwinden und die Zerstörung gleichsam zu manifestieren und auszudrücken vermag: »... die Äußerung dieser zwiefachen Negation, der Ton, (ist) eine Äußerlichkeit, welche sich in ihrem Entstehen durch ihr Dasein selbstwieder vernichtet und an sich selbst verschwindet.« Die Musik macht die Selbstzerstörung, den ständigen Untergang und das Verschwinden zum Wesen ihrer Kunst. Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, Thomas Bernhards Schreibstil als musikalisch zu bezeichnen – was seinen Satzbau so musikalisch macht und welche Art von Musikalität oder musikalischem Stil damit verbunden wäre, bleibt zumeist im Dunkeln. Ebenso klischeehaft ist es, diese stilistische Musikalität als Ausdruck der Bedeutung der Musik im Leben des österreichischen Schriftstellers zu sehen, die den Traum, eines Tages Opernsänger zu werden, der durch eine extrem schlechte Gesundheit und eine chronische, lebensbedrohliche Lungenerkrankung verpfuscht war, sublimieren sollte.
Es scheint daher naheliegender, Bernhards Musikalität formal, aber auch inhaltlich – er bezeichnet sich selbst als Geschichtenzerstörer – mit der Musik als einer verschwindenden Kunst oder gar Zerstörungskunst in Verbindung zu bringen, denken wir nur oberflächlich an seine Romane, ihre Titel und ihren Inhalt.
Thomas Bernhards seltsame Dialektik von Musik und Tod
Es überrascht daher, dass Bernhard selbst eine solche mögliche Interpretation vorwegzunehmen scheint, indem er sie nicht so sehr resolut abbricht, sondern mit einigen unerwarteten Wendungen versieht. Wir müssen nicht einmal in verschiedenen Äußerungen oder Auszügen aus seinem Werk danach suchen. Nirgendwo hat Bernhard eine solche Interpretation deutlicher und plastischer angedeutet als am Ende des 1981 entstandenen Dokumentarfilms »Monologe auf Mallorca«, acht Jahre vor seinem Tod. In der inzwischen legendären, von Krista Fleischmann als Selbstgespräch zusammengeschnittenen Reihe von Interviews klärt der Schriftsteller nicht nur inhaltlich, was Musik und Tod für ihn bedeuten (und es darf bezweifelt werden, dass es zu einer fruchtbaren Interpretation führt, einen Schriftsteller beim Wort zu nehmen); die Darstellung selbst als Form, wie sie sich im Sprechen und Denken entfaltet, ist ein Musterbeispiel Bernhard’scher Dialektik. Sie spiegelt gleichsam die literarische Methode wider, auf den ersten Blick widersprüchliche und sogar unvereinbare Themen miteinander zu verflechten und sie so zusammenwirken zu lassen, dass sie hinterher nicht mehr getrennt voneinander verstanden werden können. Nun wird auch deutlich, wie für Bernhard selbst die Musik das »unaufhebbare« Element ist, das der unaufhaltsamen Destruktivität von allem entgeht, den Figuren, den Umständen, den Geschichten und Erinnerungen, der Erzählung und schließlich auch dem Erzähler und sogar dem Schriftsteller. Alles ist bei Bernhard einer unaufhaltsamen, unausweichlichen Auflösung unterworfen, außer die Musik. Die Musik hingegen ist der Basso continuo dieses Auflösungsprozesses, sie gibt jeder Selbstzerstörung einen musikalischen Anstrich, und selbst wenn alles aufgelöst ist, hallt die Musik weiter. Die Musik ist das »untote« Element, das alles Verderbliche aufsaugt und verwandelt, jeden Untergang leicht rhythmisiert und in diesem Sinne jede Tragödie in eine Komödie oder einen Tanz verwandelt.
Der Ausgangspunkt bei Bernhard ist die Selbstreferenz, zum Beispiel (und in diesem Fall): das Sprechen des Schriftstellers, während er spricht; und dann ein zweites externes Element, das damit verbunden wird: das musikalische Element in Form des Taktes der Zehen, die die Worte des Schriftstellers begleiten, während er unaufhörlich spricht. Oder hat Fleischmann das nie beachtet, fragt der Schriftsteller erstaunt. Bernhard nennt dies den perfekten Kontrapunkt zwischen dem sprechenden Mund und dem Taktschlag der Fussspitzen. Dann kommen Hände und Daumen ins Spiel. Der Fuß hält alles zusammen und verleiht dem Ganzen Konsistenz und symphonischen Gehalt.
Dann kommt der Gegenpol, das Hindernis. Wie sieht es mit dem Taktieren aus, wenn man in einem Operationssaal angeschnallt ist? Dann wird es schwieriger oder gar unmöglich. Aber, so Bernhard, auch ein Sterbender hat Musik im Kopf. Selbst wenn alles untergegangen ist, der Geist, die Menschen, die Erinnerungen, gibt es immer noch Musik. Selbst bei einem klinisch toten Menschen, so Bernhard. Wie kann man sich das vorstellen? Wie einen Totentanz, bei dem die Maden den Körper übernehmen und die Musik weiterspielen, erst im linken Augenwinkel und dann im rechten, oder umgekehrt, ein Thema für Wissenschaftler, die heute trendige Symposien zu diesem Thema veranstalten, so der Schriftsteller. Bernhard verweist damit auf das dialektische Abgleiten des Denkens von Ernst zum Unernst, während es bei ihm die absolute Ernsthaftigkeit ist. Nicht der ernste Meister, sondern der Ernst als Meister, ein entscheidender Unterschied, den Bernhard mit dem Unterschied zwischen Österreich (letzterem) und Deutschland (ersterem) andeutet. Der Name des Meisters, der ihm (österreichischen) Ernst garantiert, ist der Tod, so Bernhard. Der Tod ist ein allgegenwärtiger Begleiter. Für Bernhard ist er ein Mantel oder ein Gewand, das er trägt und hinter sich herzieht, wohin er auch geht. Bernhard stellt klar, dass er dieses Todeskleid nicht trägt, sondern dass es an ihm hängt und er es notwendigerweise hinter sich herschleppt. An den Tod zu denken ist nicht nötig, weil der Tod ständig an ihndenkt und daher gibt es keinen Grund, ihn heim zu holen. Heimzugehen ist für Bernhard keine Option. Heimgehen heißt sterben. Zu Hause sein heißt tot sein, eine Erkenntnis, die Bernhard mit Pascal teilt. Zu Hause sein heißt tot sein, ewige Ruhe, ewig zu Hause sein heißt tot sein. Deshalb kehrt der Schriftsteller nicht gerne nach Hause zurück, denn zu Hause steht der Tod schon vor der Tür »mit seiner schwarzen Hand«, »die Curd-Jürgens-Hand, der Tod in Salzburg mit diesen Knochenfingern«. Der Druck dieser Hand ist es, den der Schriftsteller ständig auf seiner rechten Schulter spürt. Der Druck des Todes lässt seine Schulter ein wenig herabhängen, ein Druck, den ihm niemand wegnehmen kann, nicht einmal eine Operation. Er nennt diesen Druck seine Angst, die wie ein Todesvogerl auf der rechten Schulter sitzt und sich dort sozusagen eingenistet hat.
Bernhards dialektische Argumentation endet mit einer Verallgemeinerung. Alles kann genauso gut ernst gesagt werden: Tod statt Todesvogel, zum Beispiel. Alles ist austauschbar; man kann den Tod auch mit einer Kaffeeschale vergleichen, aber dann rutscht man wieder in den Unernst. Auf diese Weise ist alles austauschbar, Wahrheit mit Lüge, Philosoph mit Richter. Der Philosoph (oder der denkende Schriftsteller) hat dem Richter (einem kleinen Mann, der alles außer sich selbst hasst und der wie der Tod alles und jeden niederdrückt) nichts zu sagen, denn Wahrheit und Lüge sind ebenfalls völlig austauschbar und jedes Urteil ist ein Vorurteil. Alle sogenannten unwiderlegbaren Urteile von Richtern sind in Wirklichkeit nur Vorurteile; man fällt ständig Urteile über Leiden und Zustände, aber sie sind nur Vorurteile. In ähnlicher Weise verurteilen die Menschen ständig die ganze Welt, aber auch das ist nichts anderes als ein Vorurteil. Die Menschen sind auf diese Vorurteile fixiert, oder schlimmer noch, sie sind an sie festgenagelt. Das Drama des Menschen, so Bernhard, besteht darin, dass der Verstand von Zwangsgedanken und Vorurteilen überrollt wird, und so laufen die Menschen ständig mit angenagelten Wahnvorstellungen herum, auch der Schriftsteller: Tod, Leben, Liebe, Keuschheit, Ruhmsucht, was auch immer, das ist das eigentliche Drama. Der Schluss ist wie ein barockes Vanitas-Tableau, in der Art von Holbeins Botschaftern, die inmitten ihrer Pracht zur Schau stehen und nicht bemerken, dass fast unmerklich ein obszöner Fleck den Vordergrund verschmiert, der aber nur schräg betrachtet die Konturen eines riesigen Schädels annimmt. Der Künstler tut nichts anderes, als Anamorphosen hochzuziehen.
»Mitten im Leben sind wir im Tod«, heißt es in einer mittelalterlichen Antiphon, und treffender kann man Thomas Bernhards Dialektik kaum zusammenfassen. Deshalb besteht dieses Konzert auch aus nichts anderem als diesem einen, innerlich gespaltenen Text, der zehnmal wiederholt wird, und zwar jedes Mal in unterschiedlichen musikalischen, polyphonen Variationen, von der anhaltenden Klage über das ergreifende Flehen bis zum makabren Totentanz.
Die plötzliche und eher kurzlebige Popularität von Media vita in morte sumus, wie der erste Satz auf Latein lautet, im 16. Jahrhundert mag etwas mit seiner Herkunft als Verwünschungslied, als Beschwörungsformel, zu tun haben, und wegen derer die Synode von Köln bereits Anfang des 14. Jahrhunderts den Gebrauch verboten hatte. Zugleich konnte es in seinen mehrstimmigen Vertonungen ab dem 16. Jahrhundert wie bei Holbein auch als musikalisches Memento mori dienen. Gregor Langes Fassung etwa ist ein solches Epitaph für den Tod des protestantischen Reformators Andreas Musculus, der vor allem mit seiner gegen extravagante Kleidung, insbesondere den Hype um gestreifte und zerrissene Landsknecht-Hosen, gerichteten Streitschrift »Der Hosenteufel« gewisse Berühmtheit erlangte, die ungewollt Bernhards Satire stilistisch vorwegnimmt. Vermutlich hätte Bernhards Erzähler oder Protagonist deutsche Polyphonisten wie Lange, Lasso und Senfl gehasst, und sei es nur, weil sie ihn an deutsche Maler wie Dürer erinnerten, dessen Nachleben vom Nationalsozialismus missbraucht und besudelt wurde. Bernhard hätte sich wohl über den Zusammenhang zwischen der Veröffentlichung von Renaissance-Polyphonie in der Vor- und Nachkriegszeit und der glühenden Nazi-Karriere zahlreicher ihrer Verleger lustig gemacht. Bernhard hat sich nicht über die Polyphonie geäußert wie Fassbinder, der die Musik von Orlando di Lasso in seinem Film »Martha« (1974) als Vehikel für den perversen Terror und die Manipulationen des kleinbürgerlichen Ehemanns benutzt. Zweifellos schwingt hier auch Adornos Beschreibung des Liebhabers Alter Musik in seiner »Einführung in die Soziologie der Musik« als reaktionärer »Ressentiment«-Hörer mit.
Vielleicht hätte Bernhard das endlos mäandernde Erhabene in John Sheppards Musik positiver beurteilt. Seine Version dauert auch am längsten, fast 20 Minuten, was umso merkwürdiger ist, als sein Werk kurz vor dem Schlafengehen während des letzten Offiziums der Komplet gesungen wurde, das paradoxerweise normalerweise am kürzesten dauert, gerade wegen der bevorstehenden Nachtruhe. Das Stück wirkt wie ein Aufschub und ein Exorzismus des Schlafs, vielleicht aus Angst, nicht mehr aufzuwachen, eine ziemlich typische Idee des 16. Jahrhunderts, die bei Bernhard eher die Form der Schlaflosigkeit annimmt, zum Beispiel in Gestalt der zahlreichen obsessiven Schlaflosen wie Höller und Roithamer in seinem Roman »Korrektur«. In José Gays spanischer Version wandern wir mit Bernhard durch Avila, Madrid: die manieristischen Gemälde im Prado, die strenge Architektur des Escorial, den Abstoßenden Mystizismus des Stierkampfes. Peter Philips, der englische Katholik, der in Antwerpen und Brüssel im Exil lebte, hat eine »Media vita« verfasst, die der Idee des Danse macabre am nächsten kommt.
Aber es ist wahrscheinlich Nicolas Gombert, mit dem sich Thomas Bernhard am meisten verbunden gefühlt hätte. Sein » Media vita« fährt sich unablässig fest in musikalische Sackgassen und wimmelt von verschleierter Chromatik und »falschen« Kadenzen; Gomberts Musik ist zweifellos ein Höhepunkt der Auflösungskunst, mit kontrapunktischen Linien, die sich verklemmen und unmögliche Kadenzen erzeugen. Das Agnus dei seiner Missa »Media vita« gipfelt in einer fast schmerzhaften musikalischen Prozession von unaufhörlichen Sequenzen, die sich gegenseitig in die Quere kommen, bevor sie sich spiralartig in den Abgrund stürzen. Es ist diese Musik, die die eingangs gestellte Frage nach der Musikalität von Bernhards Stil beantwortet: Am nächsten kommt Bernhards Prosa meiner Ansicht nach nicht die Musikalität der Spätromantik, auch nicht die Atonalität der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, sondern die paradoxerweise karge und zugleich exzentrische, unzeitgemäße Variationskunst der Polyphonie des 16. Jahrhunderts.
BJÖRN SCHMELZER